* 28 *

28. Im Zangengriff

 

Miarr

Es war beides. Miarr, ein Mensch, aber seit Generation ein Katzenverwandter, kämpfte um sein Leben.

Miarr war ein kleiner schmächtiger Mann, der wenig wog – fünfmal weniger als Fat Crowe und zweimal weniger als Thin Crowe. Und das bedeutete, dass ihm die Crowe-Zwillinge zahlenmäßig um das Siebenfache überlegen waren.

Miarr hatte sich auf der Beobachtungsplattform aufgehalten, als die Crowes und Jakey Fry mit ihren Tauen hereingewankt kamen und ihre Last auf den Boden warfen. Miarr hatte gefragt, wozu die Taue gut seien, und als Antwort erhalten: »Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen – dort, wo du hingehst.«

Ein Blick in Jakey Frys erschrockenes Gesicht sagte Miarr alles, was er wissen musste. Er kletterte den Fußpfahl (ein Pfahl mit Trittstufen auf beiden Seiten) hinauf, stieß die Falltür auf und flüchtete in einen Raum, in den ihm normalerweise niemand zu folgen wagte – die Lichtarena.

Die Lichtarena war der kreisrunde Raum in der Spitze des Leuchtturms. In seiner Mitte brannte die Lichtsphäre – eine große runde Kugel aus grellweißem Licht. Um die Kugel herum führte ein schmaler Laufgang aus weißem Marmor. Hinter der Kugel, auf der Inselseite des Leuchtturms, befand sich eine große, nach innen gewölbte Platte aus gleißendem Silber, die Miarr jeden Tag polierte. Auf der Meerseite befanden sich zwei riesige Glaslinsen, die Miarr ebenfalls jeden Tag polierte. Die Linsen waren etwa einen Meter hinter den beiden mandelförmigen Öffnungen – den Augen – angebracht, durch die das Licht gebündelt wurde. Die Augen waren viermal so hoch, wie Miarr groß war, und sechsmal so breit. Sie blickten in den Himmel, und als Miarr die Falltür zuschlug und verriegelte, wehte ein frischer, nach Meer riechender Sommerwind herein und stimmte den Katzenmann traurig. Ob er heute Morgen zum allerletzten Mal Seeluft schnuppern würde?

Seine einzige Hoffnung war, dass die Crowes zu viel Angst davor hatten, in die Lichtarena heraufzukommen. Miarrs Familie hatte sich im Lauf der Generationen an das Licht angepasst und dunkle Zweitlider – Lichtlider – ausgebildet, durch die man sehen konnte, ohne von dem Licht geblendet zu werden. Wer aber ohne diesen Schutz direkt in das Licht blickte, dem versengte die Helligkeit die Augen, und zurück blieben Narben in der Mitte seines Gesichtsfelds, sodass er dort nur noch einen schwarzen Fleck in der Form der Lichtsphäre sah.

Doch als von unten gegen die Falltür gehämmert wurde, da wusste Miarr, dass seine Hoffnung vergebens war. Er kauerte neben dem Licht nieder und lauschte Thin Crowes Faustschlägen gegen die dünne Metallklappe, die nur lichtundurchlässig, aber nicht Crowe-undurchlässig war. Er wusste, lange würde es nicht dauern.

Plötzlich flog die Falltür aus den Angeln, und Thin Crowes geschorener Schädel tauchte aus dem Loch im Laufgang auf, auf den Augen zwei dunkelblaue ovale Gläser, mit denen er aussah wie eines dieser Rieseninsekten, die Miarr in seinen schlimmsten Albträumen heimsuchten. Miarr war entsetzt – was immer die Crowes im Schilde führten, sie hatten es sorgfältig geplant. Thin Crowe zog sich in den Laufgang herauf, und Miarr wartete ab, aus welcher Richtung er über ihn herfallen würde – entschlossen, selbst in die andere zu rennen. So konnten sie lange hintereinander herjagen. Doch seine Hoffnungen wurden zunichtegemacht, als auch Fat Crowes Kopf in der Luke erschien, ebenfalls mit Insektenaugen. Mit blankem Entsetzen – und höchstem Erstaunen – beobachtete Miarr, wie Thin Crowe seinen Bruder durch das enge Loch wuchtete und auf den Gang zog, wo dieser erschöpft liegen blieb wie ein wabbeliger Fisch auf dem Trockenen.

Miarr schloss die Augen. Das war das Ende.

Jetzt begannen die Crowes mit ihrem Spezialtrick – dem Zangengriff. Diesen Trick hatten sie drüben in Port schon in so mancher dunklen Gasse erfolgreich angewendet. Die Zange begann damit, dass sie sich dem erschrockenen Opfer langsam von zwei Seiten näherten. Das Opfer beobachtete den einen, dann den anderen und überlegte verzweifelt, in welche Richtung es rennen sollte – dann, im entscheidenden Moment, ließen die Crowes die Zange zuschnappen. Zack!

Und so war es auch mit Miarr. Er wich vor den beiden an die Wand zurück, die der Falltür gegenüberlag, und durch seine Lichtlider beobachtete er, wie seine Albträume wahr wurden: Ein schmales Grinsen auf den Lippen, die Finger zu Krallen gekrümmt, kamen die Crowes, auf dem Marmorfußboden vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, von beiden Seiten auf ihn zu, langsam, ganz langsam und unaufhaltsam.

Es kam, wie Miarr erwartet hatte: Sie trieben ihn zu den Leuchtturmaugen. Schließlich stand er mit dem Rücken zur Wand in dem Zwischenraum zwischen den Augen und fragte sich, durch welches sie ihn wohl werfen würden. Er spähte kurz zu den Felsen in der Tiefe. Es ging weit hinab – sehr weit. Er wünschte seinem Licht ein stummes Lebewohl.

Zack! Die Crowes fielen über ihn her. Hand in Hand arbeitend, was sie sonst nie taten, ergriffen sie ihn und rissen ihn in die Höhe. Miarr stieß ein entsetztes Jaulen aus, das noch weit unten auf dem vierten Treppenabsatz zu hören war und Lucy und Wolfsjunge einen Schauder über den Rücken jagte. Die Crowes, die sich den Katzenmann viel leichter vorgestellt hatten, wurden durch ihren eigenen Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht. Zappelnd und fauchend – mehr wie eine Schlange als eine Katze – entglitt Miarr ihrem Griff und flog hoch in die Luft, dann durch das linke Auge und hinaus in den leeren Himmel. Einen Wimpernschlag lang, der ihm selbst wie eine Ewigkeit vorkam, schwebte er zwischen Himmel und Erde. Er sah vier seltsame Spiegelbilder von sich in den Insektenaugen der Zwillinge: Er schien gleichzeitig zu fliegen und zu schreien. Er erhaschte einen letzten Blick von seiner geliebten Lichtsphäre, und dann sah er, wie die schwarze Wand des Leuchtturms mit buchstäblich halsbrecherischer Geschwindigkeit an ihm vorbeiraste.

Wie eine Katze drehte er sich instinktiv so herum, dass er dem Boden das Gesicht zuwendete, und während er fiel, drückte ihm der Wind sternförmig die Arme und Beine auseinander, sodass sich sein Umhang aus Seehundfell wie zwei Fledermausflügel spannte. Sein Sturzflug ging in einen sanften Gleitflug über, und höchstwahrscheinlich wäre er auf der Plünderer direkt unter ihm gelandet, hätte ihn eine Windböe nicht gegen die Außenmauer des Leuchtturms gedrückt.

So kam es, dass Miarr wieder eines seiner ursprünglich neun Leben aufbrauchte und somit jetzt nur noch sechs übrig blieben (eines hatte er aufgebraucht, als er als Kind ins Hafenbecken gefallen war, und ein zweites, als sein Cousin verschwunden war).

Lucy und Wolfsjunge hörten nicht, wie Miarr gegen die Mauer des Leuchtturms prallte. Der Aufschlag wurde von den scheppernden Schritten des nahenden Theodophilus Fortitude Fry übertönt. Lucy und Wolfsjunge standen noch auf dem Zwischenabsatz. Das grässliche Jaulen war verhallt, und als sich die Schritte des Skippers der letzten Windung vor dem Treppenabsatz näherten, flüsterte Wolfsjunge: »Wir sind die Nächsten.«

Lucy nickte mit weit aufgerissenen Augen.

Wolfsjunge drückte gegen die Tür hinter ihnen, und zu seinem Erstaunen ging sie auf. Rasch schlüpften er und Lucy hinein und fanden sich in einem kleinen Raum wieder, in dem drei leere Etagenkojen und ein spindähnlicher Schrank standen. Lautlos schloss Wolfsjunge die Tür und machte Anstalten, sie zu verriegeln, doch Lucy hielt ihn davon ab.

»Wenn du das tust«, flüsterte sie, »weiß er ganz genau, dass wir hier drin sind. Unsere einzige Chance ist, dass er nachsieht und uns nicht findet. Dann denkt er, wir sind schon weiter oben.«

Die Schritte kamen näher.

Wolfsjunge überlegte rasch. Lucy hatte recht. Aber er wusste auch, dass Theodophilus Fortitude Fry die Schlafkammer Zentimeter für Zentimeter absuchen würde, und es war ihm schleierhaft, wo sie sich nach Lucys Meinung verstecken sollten. Die Etagenkojen hatten weder Matratzen noch Bezüge, und der einzige Platz, wo man sich verbergen konnte, war der Schrank, aber dort würde der Skipper mit Sicherheit nachsehen.

Die Schritte verharrten auf dem Treppenabsatz.

Wolfsjunge packte Lucy, stieß sie in den Schrank, quetschte sich hinter ihr hinein und zog die Tür zu. »Wozu soll das gut sein?«, flüsterte sie. »Hier sieht er ganz bestimmt nach.«

»Hast du eine bessere Idee?«, zischte Wolfsjunge.

»Fall über ihn her«, erwiderte Lucy. »Schlag ihm auf den Kopf.«

»Pst!« Wolfsjunge legte den Finger auf die Lippen. »Vertrau mir.«

Lucy blieb nichts anderes übrig. Sie hörte, wie die Tür zur Schlafkammer aufging und schwere Schritte hereinstapften. Sie blieben direkt vor dem Schrank stehen, und angestrengtes Keuchen drang durch die dünne Tür.

»Ihr könnt rauskommen«, ertönte die raue Stimme des Skippers. »Ich habe Besseres zu tun, als Verstecken zu spielen, zum Donnerwetter.«

Es kam keine Antwort.

»Ich will euch mal was sagen. Bis jetzt seid ihr noch glimpflich davongekommen. Aber das wird sich ändern, wenn ihr nicht sofort herauskommt.«

Zorniges Rütteln am Türgriff.

»Ihr habt eure Chance gehabt. Sagt nachher nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.«

Die Tür wurde aufgerissen.

Lucy öffnete den Mund zu einem Schrei.

Septimus Heap 05 - Syren
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